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Glosse: Ein Schlag ins Wasser

„Sport?“ Eine heiße Welle schwappt mir ins Gesicht. Also, jaaaaa…. sagt das schlechte Gewissen. Knacks! macht die Wirbelsäule, ich stöhne leise. Fröhlich springt die Krankengymnastin von meinem Rücken. „Und?“ fragt sie. Ich druckse ein wenig. „Prinzipiell schon“, sage ich schnell, „vor allem Tanzen.“ – „Wie schön“, meint sie. „Wo denn?“ Ich denke nach. Ich vermute, dass Krankengymnastinnen eine andere Zeitrechnung anwenden. Dass Sätze, die mit „Also, im vergangenen Jahr…“ beginnen, hier auf Unverständnis stoßen. Ich fange komplizierte Erklärungen an: kein geeigneter Unterricht momentan, Unterforderung, ungünstige Zeiten. Mein unregelmäßiger Lebenswandel. Die Kosten. Die Kinder. Mir fällt ein, dass ich keine Kinder habe, und ich schweige. „Aha“, sagt die Krankengymnastin und zerrt an meinem linken Arm. Ich komme aus dem Gleichgewicht und wanke. „Fahrrad fahren“, rufe ich ihr zu, „beinahe täglich.“ – „Jaja“, kontert sie lapidar. Ich höre im Unterton Verachtung. Sie schlingt von hinten ihre Arme um mich. „Fallen lassen“, gebietet sie. Ich gehorche. Ein Geräusch wie stürzende Dominosteine. Als ich mich wieder aufrichte, bin ich dankbar, dass keine Einzelteile von mir verloren gegangen sind. Sport! denke ich. Rücken stärkend und entspannend. Individuell und allzeit möglich. Und einmal den Bürostress vergessen. Am besten Schwimmen. Also gut.

Da war doch ein Schneeflöckchen! Ich lasse die Plastiktüte mit Handtuch, Duschgel und Badeanzug fallen und stürze zum Fenster. Da war doch eins! Eisig wirkt es da draußen. Unökologisch, denke ich. eine riesige Badewanne, mitten im Winter geheizt auf 28 Grad. Zudem unhygienisch. Voller Menschen, von denen die kleinsten reinpinkeln. Bis zum Rand gefüllt mit gechlortem Wasser, das in den Augen brennt. Und das soll meinem Computer leidenden Rücken wirklich helfen? Ich setze mich ans Fenster, um nach dem Schneeflöckchen Ausschau zu halten und ein kleiner Stich saust an meinem linken Schulterblatt entlang. Ich seufze, stehe auf, nehme die Plastiktüte und gehe.

„Anderthalb Stunden acht Euro“, sagt die Frau im weißen Kittel. Ich zähle Euro für Euro auf den Tresen. Zehn Minuten später stehe ich x-beinig und leicht fröstelnd vor einem dieser orangefarbenen Metallschränke und erinnere mich, weshalb das mit den Geldstücken ein Fehler gewesen ist. Eine junge Frau mit langem blonden Haar, die türkisfarbenen Schwimmbrille baumelt um den Hals, umrundet mich, stoppt kurz ab, legt – schneller, als meine Zähne klappern – ihre Sachen in meinen Schrank, wirft eine Münze ein, dreht den Schlüssel um und schreitet auf Badelatschen von dannen. Planen, entscheiden, handeln, denke ich. Und stehe derweil immer noch an derselben Stelle, barfuß, zitternd und staunend ob dieser Professionalität, während meine Unterhose in eine sandige Pfütze fällt.

Es dauert etwas, bis ich eine Münze eintauschen kann. Es dauert etwas länger, bis ich einen freien Schrank ergattere. Und nachdem ich ein Labyrinth von Umkleidekabinen und Schränken durchwandert habe, deren gekachelte Gänge zu Saunen führen, zu Thermen, Dampfbädern und Masseuren, finde ich schließlich auch den Weg zum Schwimmbecken.

Ich versuche außerordentlich entspannt mit geschlossenen Augen im lauen Wasser zu treiben. Ich träume von blauem Himmel, von weißem Sand und Südsee-Palmen. „Wwwrruummmm!“ macht es. Ein Atomtest, denke ich, das Bikini-Atoll. „Wwwwrrruummma-Umma-Umma“, wabern Beats und Bässe dröhnend durch die Halle. Eine Kompanie entert das Becken. Sie toben, drängeln und boxen vehement in die Luft. Krieg, denke ich. Oder schlimmer: Mittagspause in der Kantine.

„Aqua-Fitness“, beruhigt mich der Bademeister. „Dauert eine halbe Stunde.“ Ach so, na dann. Im Freibad ist das Wasser um einige Grade kühler. Leichter Hamburger Nieselregen legt sich auf meine Wimpern. Ich denke an Leonardo di Caprios blaue Lippen nach dem Untergang der Titanic und schwimme schneller. Draußen am Beckenrand steht ein weißhaariger Mann, über den pensionierten Knochen nur eine Badehose; vermutlich festgefroren. Wie der „Titanic“-Kapitän schaut er reglos auf das Geplantsche unter ihm. Ein scharfer Schrei von links vorn lässt mich meinen vor Frost knirschenden Hals wenden. Nur eine knappe Nasenlänge entfernt starrt mich eine türkisfarbene Kampfbrille an mit langem, blonden Haar. Ich höre noch „Kannste nicht aufpassen“, dann überschwappt mich schon die Welle.

Das Chlor huste ich am Rand aus. Neben mir stehen zwei Frauen, Lippenstift und Eyeliner sitzen perfekt. Synchron stoßen sie sich vom Beckenrand ab und kraulen, den Kopf knapp überm Wasser, ihre nächste Bahn durchs Becken und weichen dabei geschickt dem blonden Kampf-Torpedo aus, der wieder zischend vorbeizieht – schnell, präzise, ziel gerichtet, tödlich.

Rechts von mir macht sich ein Glatzkopf auf den Weg. Lässig taucht er unter und schwingt einen Arm über den Kopf. Eine riesige Bugwelle vorneweg. Hier! Ich! Leistung! scheint er zu rufen. Mein schlechtes Gewissen treibt mich zu ein paar vorsichtigen Schwimmzügen. Ich bereue sofort, den sicheren Beckenrand verlassen zu haben. Rechts vor mir immer noch der Glatzkopf mit seinen Büroturm-Wellen, der krault ohne von der Stelle zu kommen, und links der Torpedo wieder im Anmarsch. Ich versuche mich aufzulösen. Verzweifelt gehe ich auf Tauchstation und träume davon ein feindliches U-Boot zu sein.

„Nein, ich gucke beim Tauchen nie“, höre ich mich sagen. „Was meinen sie, was ein Paar Kontaktlinsen kostet?“ Ich kämpfe mit Wasser und Sicht und erkenne am Parfum, dass ich mit den beiden Modell-Athletinnen von eben zusammen gestoßen bin. Von hinten kündigt ein Schnaufen den schwer arbeitenden Glatzkopf an, ein dumpfes Brodeln verrät, dass der Kampftorpedo auf dem Rückmarsch ist. Ich flüchte.

Sport? Ach, wissen Sie, ich bemühe mich halbwegs regelmäßig die Übungen zu machen, die mir meine Krankengymnastin beigebracht hat. Zu Hause. Schwimmen gehe ich trotzdem. Das letzte Mal habe ich zehn Bahnen durchgehalten – ohne auszuweichen. Und große Wellen kann ich auch schon. Langsam, aber sicher werde ich effektiv, entschlossen, durchsetzungsfähig. Kennen Sie ein billigeres Karrieretraining?

Erschienen in der Brigitte