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Filmkritik: Helden der Großstadt

Die Stars des Films leben auch im richtigen Leben auf der Straße. Genauer gesagt in den Gassen von Casablanca - in abbruchreifen Rohbauten und auf verlassenen Pontons am Hafen. Sie kämpfen und sie spielen auf Busfriedhöfen und verwahrlosten Plätzen, wo der Wind den Müll umhertreibt.

"Ali Zaoua", der zweite Spielfilm des marokkanischen Regisseurs Nabil Ayouch, erzählt vom Leben der Straßenkinder, die zu Tausenden die marrokanische Großstadt bevölkern. Obwohl der Stoff des Films auf der sozialen Wirklichkeit des nordafrikanischen Landes beruht, ist sein Zugang beinahe träumerisch. "Die Fiktion steht an erster Stelle", sagt Ayouch, "ich bin kein Sozialfilmer. 'Ali Zaoua' ist vor allem ein städtisches Märchen."

Dieses Märchen einer ganz und gar unmärchenhaften Sechs-Millionen-Metropole ist auf den Filmfestivals von Stockhom bis Ouagadougou, von Montreal bis Brüssel mit Preisen überschüttet worden. "Zu Anfang dachte ich, ich könnte mit der Kamera einfach zu den Kindern gehen und ein paar Reaktionen einfangen", erzählt der Regisseur, "aber sie logen mir die Hucke voll. Die Straßenkinder sind die besten Schauspieler der Welt: Die Gesellschaf lehrt sie, wie man am wirkungsvollsten lügt!"

Also ließ Ayouch seine Kamera zu Hause und lernte erst einmal den Alltag seiner Protagonisten kennen: Ihr Leben unter Gleichaltrigen, in dem sie niemandem Rechenschaft ablegen müssen, in dem keine Erwachsenen vorkommen - weder Eltern noch Lehrer. Es ist ein Leben ohne Ziel, dafür reich an Träumen und einem Tagesablauf, dessen Rhythmus von Fußballspielen und Klebstoffschnüffeln bestimmt wird und vom Zwang Geld zu besorgen.

Zwei Jahre lang hat der Regisseur die Streetworker der Hilfsorganisation Bayti begleitet, die sich um die Straßenkinder von Casablanca kümmern. Erst dann hat er sich an sein Projekt gewagt. Hat sich auf die Suche nach den Haupdarstellern begeben. Und nach seiner Geschichte.

Die Geschichte erzählt von Kwita, Omar und Roubker, die ihren besten Freund Ali beerdigen wollen. Mit einem Stein wurde der von ihrer ehemaligen Gang erschlagen. "Ali hatte vielleicht ein Scheißleben", meinen sie einstimmig, "aber er wird nicht wie Scheiße begraben." Wie ein Prinz soll er bestattet werden. "Und die ganze Stadt wird dabei weinen", sagt Kwita. An dem toten Freund entzündet sich die Fantasie der drei: Er wird zum Prinzen, zum Helden, zum Mythos, der im Leben die Autos wie ein Pferd mit den Zähnen hinter sich herzog und sich im Tod auf die Reise zu einer sagenhaften Insel macht. Dort verspricht seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit, Geborgenheit und Familie in Erfüllung zu gehen.

Der Wunsch nach einer angemessenen Beerdigung für Ali gibt dem Leben der Freunde ein Ziel. Doch bis sie es erreichen, sind einige Kämpfe zu bestehen: mit dem Straßenkönig Dib und seiner Bande, mit der Polizei, mit Alis Mutter und nicht zuletzt mit sich selbst.

Nabil Ayouch ist ein packender Film gelungen, der ohne rührseligen Sozialkitsch, ohne betroffenes Gejammere vom Schicksal dieser Kinder erzählt, von Freundschaft und von Träumen. Ayouchs Blick ist so mitleidlos, wie die Straßenkinder selbst es sind, aber voller Respekt vor ihrer Kraft und dem Leben, das sie führen. Beinahe dokumentarische Bilder hat Ayouch gebrochen durch anrührende Traum-Sequenzen, in denen auch die Frau vom Werbeplakat auf wundersame Weise zu Leben erwacht. Am beeindruckendsten aber ist die schauspielerische Leistung der jugendlichen Akteure.

In ihre Gesichter hat das Leben tiefe Narben gemalt, und ihre Augen erzählen davon, wie viel sie schon gesehen haben. Und wenn Boubker (Hicham Moussoune) sich freut, dann öffnet sich sein gezeichnetes, ungewaschenes Kindergesicht und nimmt den Zuschauer mit auf seinen Sternenflug.

Berühmt sind sie dennoch nicht geworden, die kleinen Stars des Films. Aber die Arbeit an "Ali Zaoua" hat ihnen immerhin so viel Stabilität vermittelt, dass drei der vier Hauptdarsteller nach Hause zurückgekehrt sind und jetzt wieder die Schulbank drücken. Ihre wichtigste Erfahrung war die uneingeschränkte Beachtung, die sie durch den Film bekamen. "Wenn man sie nicht zur Kenntnis nimmt", sagt Regisseur Nabil Ayouch, "ist das für diese Kinder das Schlimmste."



Erschienen in der Financial Times Deutschland