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Reportage: Ein Volk von Fabrikanten

Sergio Cardanos wohnt im 5. Stock einer Textilfabrik. Seine alte Matratze liegt dort, wo er tagsüber Nähmaschinen repariert und wo papierene Schnittmuster von Christian Dior und Cacharel dicht an dicht die Wände säumen. Durch die breite Fensterfront pfeift kalt der Winterwind. Seine Frau sieht der 32-Jährige nur noch selten. „Die Fahrt nach Hause ist zu teuer“, sagt er fröstelnd, „und dann ist so viel zu tun: die Versammlungen, die Demonstrationen, die Besprechungen“.

Sergio Cardanos und 56 seiner Kollegen halten seit einem Dreivierteljahr die Textilfabrik Brukman im Zentrum von Buenos Aires besetzt. An die verspiegelte Glasfassade haben sie vier Spruchbänder gehängt, die eine Verstaatlichung des Unternehmens fordern unter Verwaltung der Arbeiter. Auf diese Weise hoffen sie, dem harten Wettbewerb am Markt zu entgehen und trotzdem ihr Schicksal und das der Fabrik zu bestimmen. „Im Grunde haben wir die Fabrik nicht besetzt“, stellt Alba Sotelo nach dem abendlichen Kontrollrundgang durch das verwinkelte Gebäude klar, „die haben uns einfach alleingelassen“. Es klingt, als sei sie immer noch ein wenig erstaunt über das, was sich im Dezember vergangenen Jahres zugetragen hat. Die drei Eigner waren eines Tages einfach verschwunden. Samt Sekretärin. „Zuerst dachten wir, sie würden gerade den Lohn holen“, sagt die 47-Jährige und streicht ihren hellblauen Kittel glatt. Also setzte sie sich nach Schichtende mit einigen anderen Näherinnen in das verwaiste Büro und wartete. Schließlich hatten sie seit Monaten immer nur einen Bruchteil ihres vertraglich zugesicherten Lohns erhalten.

Sie warteten den Nachmittag, den Abend, die Nacht. Die Fabrikbesitzer kamen nicht wieder. Zu hoch waren die Schulden, die sie im Laufe der Jahre aufgetürmt hatten. Vier Wochen später entschied die Belegschaft, die karamellfarbenen Herrenmänteln und die dunklen Anzügen aus dem Lager zu verkaufen und die Näherei auf eigene Faust weiterzuführen. Illegal.

Wäre die Textilfabrik Brukman ein Einzelfall, es wäre eine von vielen Randnotizen aus einem Land, das sich in Auflösung befindet und dessen Finanzminister Guillermo Nielsen mit dem Staatsbankrott droht. Doch zwischen Feuerland und Salta werden zurzeit über Hundert Betriebe von ihren ehemaligen Angestellten geleitet und verwaltet - von der Ziegelei bis zur Privatklinik. Doppelt so viele wie noch im März dieses Jahres.

All diese Unternehmen hatten Konkurs beantragt oder standen kurz davor. Einige wurden von den Arbeitern ohne Richterentscheid übernommen, so wie die Näherei Brukman oder die Keramikfabrik Zanón. Doch der größte Teil wurde mit Hilfe von Anwälten in legale Kooperativen umgewandelt. „In einem Jahr wird es in Argentinien 200 Kooperativen geben“, erklärt Luis Caro, Jurist und Experte für solche Transaktionen. „Ach was, mehr als 200“, setzt der Anwalt mit lausbübischem Grinsen nach, „das verbreitet sich wie ein Lauffeuer“.

Für viele Argentinier ist die Kooperative der letzte Ausweg: Jeder fünfte hat keinen Job – laut offizieller Statistik. Doch selbst im Arbeitsministerium spricht man davon, dass mittlerweile wohl jeder Dritte auf Stellensuche ist. Und zudem arbeiten 15 % der Argentinier ohne soziale Absicherung, etwa als Altpapiersammler oder Straßenverkäufer. Laut INDEC, dem Statistischen Nationalinstitut, leben allein im Großraum Buenos Aires über die Hälfte der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Wer jetzt noch einen Arbeitsplatz hat, hält verzweifelt daran fest.

„Seit 69 Tagen sitzen wir hier und warten darauf, dass wir wieder arbeiten dürfen“ sagt Dante Aguilera, ein schmaler Mann mit indianischen Zügen. Im Dämmerlicht zweier Neonröhren legt er seine rissigen Hände um den Becher mit heißem Matetee. Die Wärme der kleinen Heizsonne erreicht ihn kaum. 20 Jahre hat Dante Aguilera im Backbetrieb Grissinopoli gearbeitet, viele Kollegen sind ebenso lange dabei. „Wir waren immer solidarisch mit den Fabrikbesitzern“, sagt er, „wir haben gearbeitet, auch als es hieß, dass gerade kein Geld für den Lohn da sei, weil der Strom bezahlt werden müsse.“

Auf einem Din-A-4-Zettel, der am stillgelegten Förderband klebt, steht in roten Lettern, wie viel die Eigner jedem Einzelnen schulden. 4449,38 Pesos sind es allein bei Dante Aguilera, elf Monatsgehälter. Doch nicht nur das: Jahrelang hat die Gesellschaft die Sozialabgaben für die Belegschaft nicht abgeführt, jahrelang nicht Wasser noch Strom bezahlt. Im Juni endlich erschöpfte sich der Langmut der Arbeiter, und sie stellten die Eigner vor die Wahl: Lohn oder Streik. Wie bei Brukman tauchten die Gesellschafter unter. Jetzt ist Luis Caro dabei auch aus diesem bankrotten Unternehmen eine Kooperative zu formen.

„Im Prinzip kann man das mit allen Firmen machen“ sagt der Anwalt. „Als ich damit anfing, hatte ich so meine Zweifel. Woher sollten die Leute zum Beispiel das erforderliche Kapital nehmen?“ Er beugt sich über den Tisch im edlen Konferenzraum des Speiseeisherstellers Ghelco, und die drei Arbeiter rundherum lächeln wissend. Schließlich sind auch sie dank Caro seit ein paar Wochen eine Kooperative. Der Anwalt macht eine kleine Pause. „Geld haben sie keins“ sagt er, „aber Humankapital“. Dann purzeln die Zahlen: Jeder Arbeiter verdient 500 Pesos im Monat, in sechs Monaten macht das 3000. Mal 45 Arbeiter machen 127 000 Pesos. „Der Rohstoff?“, fragt Luis Caro und gibt gleich die Antwort: finanzieren die Kunden vor. Später wird das mit der Warenlieferung gegengerechnet. Und auch für andere Probleme hat der Jurist unkonventionelle Lösungen parat: Als die 47 Arbeiter von Ghelco kein Geld hatten, um den Strom zu bezahlen, ist durch Caros Vermittlung „Unión y Fuerza“ eingesprungen, der erste Betrieb, aus dem der Anwalt eine Kooperative gemacht hat und der sich inzwischen ein finanzielles Polster zugelegt hat. Luis Caro hat wieder sein Lausbubengrinsen im Gesicht. Die Rechnung des findigen Juristen hat am Ende auch den Richter überzeugt, der mit Ghelcos Bankrott befasst war. Er entschied, dass der Betrieb enteignet wird und die Arbeiter die Fabrik erst einmal für ein halbes Jahr weiterführen dürfen - gegen ein Entgeld, mit dem die Altschulden abgestottert werden sollen.

Der Ghelco-Plan sieht folgendermaßen aus: Während der ersten sechs Monate leben die Arbeiter von 150 Pesos Arbeitslosengeld, dann sollen sie genug Geld erwirtschaftet haben, um den Betrieb am Laufen zu halten, sich Lohn zu zahlen und irgendwann, wenn die Fabrik versteigert wird, sie aufzukaufen. Die Gehaltsstruktur bei Ghelco ist übersichtlich: „Das Wichtigste ist, dass die Arbeiter nicht mit den Schulden des Voreigners belastet werden“, erklärt Luis Caro, „und dass alle gleich viel verdienen. Auch wenn das jetzt kommunistisch klingt.“ Schließlich soll sich nicht wieder ein Wasserkopf gutverdienender, aber wenig produktiver Verwaltungsleute bilden: Bei Ghelco kamen vor der Umwandlung auf 90 Arbeiter 30 Manager mit Geschäftsführertitel.

Die Arbeiter von Grissinopoli würden den Erfolg der Eisfabrik gerne kopieren. Aber die zuständige Richterin hält die Besetzer hin. „Wenn sie nächste Woche nicht entscheidet“, sagt Dante Aguilera, „fangen wir wieder an zu produzieren. Ob das nun legal ist oder nicht.“ Es klingt nicht trotzig; er sagt es wie einer, dem keine andere Wahl bleibt. Seit über zwei Monaten haben er und seine 13 Kollegen sich in den weißgekachelten Hallen der Fabrik verbarrikadiert, damit die Eigner die Backöfen und Knetmaschinen nicht demontieren. Sie überleben von dem, was die ‚Asambleas’, die Nachbarschaftsversammlungen, ihnen spenden. Häufig reicht es zu kaum mehr als einer Portion Nudeln oder Reis am Tag.

Nur wenige Stunden nachdem Dante Aguilera sich mit einem Mate aufgewärmt hat, füllt der dämmrige Raum sich mit rund hundert Menschen der ‚Asambleas’ aus der Umgebung. Sie bekunden ihre Solidarität mit den Bäckern und beraten, was weiter geschehen soll: Wie etwa das Kapital für Mehl und Salz besorgen, damit die Arbeit nächste Woche wieder losgehen kann? Wie verhindern, dass die Polizei das Gebäude räumt?

Die ‚Asambleas’ sind die Verbündeten der Arbeiter. Nachdem auch die Menschen der Mittelschicht erfahren haben, dass ihre Lebensgrundlage nicht mehr sicher ist und ihre Bankguthaben im Dezember eingefroren wurden, wollen sie mehr tun, als bei einem guten Wein die stetig steigende Korruption und die Unfähigkeit der Politiker zu diskutieren. Sie organisieren Straßenküchen und Gemeinschaftseinkäufe, um die größte Not zu mildern, Demonstrationen und Solidaritätsfeste zugunsten der Arbeiter oder der Altpapiersammler. „Wir müssen wieder zusammenfinden“, sagt eine grauhaarige Frau auf der Versammlung in der eiskalten Fabrikhalle, „dann sind wir stark und können alles ändern“.

Nur wenig von ihr entfernt sitzt in dicker blauer Wolljacke Jorge Altamira, der Präsidentschaftskandidat der Arbeiterpartei. Hört zu, redet, hört zu. Der Abgeordnete unterstützt die Forderungen der Grissinopoli-Arbeiter nach Umwandlung in eine Kooperative, ebenso wie die Forderung der Brukman-Arbeiter nach Verstaatlichung. Denn nicht weniger als eine Gegenregierung sieht der weißhaarige Mann im Zusammenspiel von ‚Asambleas’, besetzten Fabriken und Kooperativen, von linken Parteien und den Aufmärschen der ‚piqueteros’, der militanten Arbeitslosen. „Das ist eine Revolution“, sagt er, „und der Internationale Währungsfond ist dabei der größte Helfer“. Dem Fond geben die Argentinier die Mitschuld an der desolaten Wirtschaftslage im Land.

Die Fabrikbesetzer hingegen gelten als Helden: Mit ihren Kooperativen haben die argentinischen Arbeiter bisher rund 10 000 Arbeitsplätze gerettet – zumindest vorläufig. Und jeder dieser Arbeitsplätze schafft wiederum zwei weitere im Dienstleistungsbereich. Immerhin. Aber auf Argentiniens Arbeiter warten noch allerhand pleite gegangene Fabriken: Allein in den vergangenen anderthalb Jahren haben 1 200 Firmen Konkurs angemeldet - für die Eigner, die die bankrotten Läden danach oft durch Strohmänner aufkaufen lassen, ein einträgliches Geschäft. Um den vollständigen Zusammenbruch der heimischen Industrie zu stoppen, wusste die Regierung Duhalde sich nicht anders zu helfen, als im März dieses Jahres ein Gesetz zu beschließen, das einen Konkurs für sechs Monate verbietet. Seitdem betreut Luis Caro nicht nur bankrotte Betriebe, sondern auch jene in Zahlungsschwierigkeiten. Seine Lösung: Er setzt für Mietverträge auf, mit denen die Arbeiter den Laden vom Eigner pachten.

„Der Staat kann einen Bankrott natürlich nicht für immer verbieten“ sagt Noemí Rial, die stellvertretende Arbeitsministerin Argentiniens, „das ist nur eine Übergangsmaßnahme einer Übergangsregierung“. Eine von vielen Übergangsregelungen, in einem Land, das kurz vor dem Stillstand steht. Einem Land ohne Geld, ohne Banken und ohne Kredite. Ein Land, das ein Leichnam ist, wie Rials Pressesprecher sagt. Nur bis der Internationale Währungsfond wieder Geld freimacht, erklärt Noemí Rial. Die blonde Juristin sitzt im fünften Stock des Ministeriums in der Innenstadt, in dem dicke blaue Teppiche die Schritte dämpfen und der Lärm der Demonstranten vorm Gebäude nicht hinaufdringt. „Kooperativen“, sagt sie und zupft an ihrem weißen Taschentuch, „schön und gut, aber, diese Art der Selbstfinanzierung scheint doch aus einer vorkapitalistischen Etappe zu stammen.“

Den Arbeitern von Grissinopoli, von Ghelco und all den anderen ist das herzlich egal. Und sogar einige von der Näherei Brukman überlegen seit Neuestem, ob sie nicht lieber eine Kooperative anstreben sollten, als auf Hilfe von einem zahlungsunfähigen Staat zu warten. „Der Internationale Währungsfond?“, fasst eine Arbeiterin zusammen, „ach, den brauchen wir nicht. Zu guter Letzt wird ganz Argentinien eine Kooperative sein.“


Erschienen in der Financial Times Deutschland